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So fern und doch so nah. Gute Reise, Haraboji

Aktualisiert: 22. Dez. 2022

Viele Einwanderer und deren Nachkommen verbringen einen Großteil des Lebens weit weg von ihren Familien. Wenn nahe Angehörige sterben, macht es die Distanz nicht einfacher. Dieser Artikel entstand in Gedenken an Lee Kyu-won. Über Kulturschocks, Krieg und den Abschied in der Ferne. Ein persönlicher Nachruf.


von David Schramm



Mein Haraboji und ich im Jahr 1981 in Südkorea.

Haraboji (am ehesten „Ha-ra-bo-si“ ausgesprochen) bedeutet Großvater. Am Sonntag habe ich erfahren, dass mein Großvater im Alter von 92 Jahren in Südkorea gestorben ist. Andere Menschen dürfen mit ihren Familien aufwachsen, alt werden – und sich auch verabschieden. Viele Einwanderer und deren Nachkommen in Ludwigshafen und auf der ganzen Welt können das nicht. Sie leben und sterben getrennt voneinander. Wegen der Umstände, wegen der Distanz. In Corona-Zeiten sowieso.


Stellvertretend kann ich meine Geschichte erzählen. Besser gesagt die meines Großvaters, der Krieg, Flucht und Teilung des Landes erlebte. Der sah, wie seine Kinder in Trümmern und Armut aufwuchsen. Wie sich Südkorea zur Wirtschaftsmacht entwickelte.


Wer würde jemals erfahren, was für ein Mensch er war, bevor die Erinnerung an ihn noch mehr verblasst? Zum Gedenken an einen besonderen Menschen aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit. Ich bin sicher, er hätte nichts dagegen, wenn ich Episoden aus seiner und unserer gemeinsamen Geschichte erzähle.


Immer wieder Abschied. Das letzte Familienfoto vor der Abreise der Tochter und des Enkels im Jahr 1981.

Veteranentreffen

Aus der Zeit meiner ersten Besuche in Korea als Kleinkind ist außer ein paar verzerrten Bildern und Großstadtgerüchen in Seoul, die sich in mein Unterbewusstsein gebrannt haben, nicht viel da.


Meine erste Erinnerung reicht ins Jahr 1986 zurück. Einschulung Goetheschule Nord. Meine Großeltern aus Korea waren zum ersten und einzigen Mal zu Besuch und wir trafen uns mit meinen deutschen Großeltern in der Werre, einer Gaststätte in Friesenheim.


Die Großväter saßen an einem Tisch und tranken. Jedes Mal, wenn ein Gespräch mal wieder an der Sprachbarriere scheiterte, wurde zugeprostet und getrunken. Je mehr getrunken wurde, umso lauter wurde gelacht. Warum ich mich an diesen Tag so gut erinnern kann ist wahrscheinlich, dass ich vorher nie betrunkene Männer gesehen hatte, geschweige denn betrunkene Großväter. Sie schafften es aus eigenen Kräften kaum noch die Treppe hinunter, als wir die Werre verließen.


Heute sehe ich dieses Aufeinandertreffen etwas anders. Beide erlebten Krieg, Wiederaufbau und Teilung der Heimat. Mein Großvater väterlicherseits war Soldat im 2. Weltkrieg, hatte jahrelange russische Gefangenschaft überlebt. Dann Familie, BASF, Garten. Haraboji kämpfte im Koreakrieg, erlebte die totale Zerstörung und Teilung des Landes. Später arbeitete er für die US-Armee. Harte Zeiten kannten sie beide.


An diesem Tag im Jahr 1986 ging es um die Familie, nicht um den Krieg – falls doch, dann haben das nur die beiden kapiert. Sie haben sich jedenfalls gut verstanden.


Dem dicken Kind geht es gut

1990 reiste ich für vier Wochen mit meiner Mutter nach Korea. Wie Zehnjährige so sind, war ich verfressen ohne Ende. Fatal, dass in den Augen meines fast schon dürren Harabojis dicke Kinder ein Symbol für Wohlstand waren. Eines Tages brachte er mir einen Riesenstapel Schokolade mit. Er steckte die meist in goldenem Papier verpackten Tafeln in einen kleinen Holzschrank in meinem Zimmer und sagte, ich solle alles essen aber niemandem etwas von dem Versteck sagen.


Ich hielt mich daran. Die Schokolade schmeckte etwas anders, ich aß heimlich alles auf. Und so oder so ähnlich ging es auch weiter. Als ich nach vier Wochen zurückkam, staunte mein Vater nicht schlecht. Glücklich war er nicht über sein dickes Kind.


Mein Großvater wollte mir etwas Gutes tun. Er wollte zeigen, dass sein Enkel gesund und kräftig ist. Dass es dem Nachkommen gut geht, besser als ihm damals. Oldschool eben.


Der schrecklichste Anzug aller Zeiten

Tradition spielt in Südkorea eine wichtige Rolle. Auch traditionelle Kleidung zu bestimmten Anlässen – zumindest war das in den 80er und 90er Jahren so. Zum 60. Geburtstag meines Großvaters 1990 musste ich zu einem Schneider für einen traditionellen Hanbok. Ich erinnere mich, dass ich das schon spannend fand. Immerhin hatte mir vorher noch niemand Maß genommen. Ein eigener Anzug nur für mich. Ich wusste, das ist etwas Besonderes.


Dann aber die Ernüchterung. Das Teil war fertig und es war pink und rosa. Mädchenfarben von oben bis unten und unbequem. Ich wollte diesen steifen Kittel nicht tragen. Aber ich tat es. Und mein Großvater freute sich, dass ich die Traditionen annahm und auch beim Fest versuchte, die Verehrungsrituale mitzumachen. Ich war zum Glück nicht der einzige, der so rumlaufen musste.


Mein Großvater und ich im März 1990. Gute Miene im für mich schrecklichsten Anzug aller Zeiten.
Hand in Hand durch die Stadt

Danach gab es erst im Jahr 2000 ein Wiedersehen. Ich war mittlerweile ein junger Mann, abgeschlossene Ausbildung, Mädchen, chillen mit Freunden. Bei einem Spaziergang in dem für südkoreanische Verhältnisse überschaubaren Städtchen Yong-in mit etwa einer Million Einwohnern nahm mich mein Großvater plötzlich an die Hand. Mitten in der Stadt. Am helllichten Tag. Ich schämte mich. Aber ich verstand auch, dass es für ihn wichtig war. Also liefen wir eine Weile. Mit schwitzenden Händen an diesem sonnigen Mittag.


Später erklärte meine Mutter, dass das in Korea eben anders sei als in Deutschland. Dass Familienangehörige Hand in Hand liefen, sei ganz normal. Das konnte ich später tatsächlich beobachten.


„Gregori Peckori“ und der Krieg

2001 verbrachte ich alleine drei Monate in Korea und hatte mehr Zeit mit meinem Großvater. Wir unterhielten uns viel. Als er 23 war, begann in Korea der Krieg. Auf der Flucht aus dem Norden kam meine Mutter unter großen Strapazen auf die Welt. Seine Frau starb beinahe. Ein Sohn und eine Tochter sollten später noch geboren werden.


Schon als Jugendlicher hatte er seine Mutter unterstützen und seine beiden Geschwister ernähren müssen, nachdem sein Vater früh verstorben war. Als ältester Sohn verließ er die Oberschule und tauschte seinen Traum, wie sein Vater Arzt zu werden, gegen ein hartes Leben auf dem Land ein. Er ging zur Polizei. Seine Familie galt einmal als wohlhabend, im Krieg verlor sie alles. Seine Schwester und ihre Kinder starben in einem Bunker.


Nach dem Krieg wurde er Militärpolizist und arbeitete später in der Verwaltung der in Korea stationierten US-Armee. „Ihr jungen Leute werdet den Krieg nie verstehen“, sagte er zu mir. Er zeigte mir die Einschussstelle an seinem Unterarm. Es war nicht die einzige Erinnerung an diese Zeit auf seinem Körper. Ich glaube, er hätte sich gefreut, wenn er sein Heimatdorf in Nordkorea irgendwann noch einmal hätte besuchen können.


Mein Großvater mit seiner Frau Hong Cheong-il im Oktober 1973.

Lee Kyu-won war ein gutaussehender Typ. Schlank, elegant, gepflegt. Seine Verwandten tauften ihn scherzhaft „Gregori Peckori“. Eine koreanische Verniedlichung des Namens Gregory Peck, einem in den 50er und 60er Jahren sehr populären Hollywood-Schauspieler.


Kein Bock auf Titanic

Ausgerechnet Titanic mit Leonardo DiCarpio lief im Fernsehen. Haraboji wollte mit mir unbedingt diesen Film schauen, da der Film sogar in englischer Sprache lief. Er ging davon aus, dass ich mich auch darüber freuen würde. Wahrscheinlich verstand er die Welt nicht mehr, als ich dann immer wieder aufstand und mich überhaupt nicht auf den Film konzentrierte. Befördert durch die unzähligen Werbeunterbrechungen.


Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich den Film gar nicht sehen mochte. Aber Nein sagen ist in Korea schwierig. Also stand ich es irgendwie durch und war froh, als die Titanic endlich gesunken war. Ich hätte mich zusammenreißen und den Moment mehr respektieren sollen, denke ich heute.


Ritual für die Ahnen

2004 starb meine Großmutter, 2007 reiste ich für drei Wochen nach Korea. Einmal ertappte ich ihn dabei, wie er mit einem Foto von ihr sprach, das im Wohnzimmer aufgehängt war. Ihr plötzlicher Verlust war schlimm für ihn.


An einem Tag fuhren wir zu ihrem Grab. Ich war überrascht, wie schön es dort war. Man kann sich den Friedhof als riesige Treppe vorstellen, die in einen Berg gemeißelt ist. Auf jeder Stufe sind Gräber. Ich erinnere mich, dass die Aussicht auf die Berge schön war, die Sonne schien. Ganz anders als der dunkle, überwachsene Hauptfriedhof in Lu.


Haraboji hatte eine Menge Dinge mitgebracht. Schüsseln, Lebensmittel und Soju –koreanischen Reisschnaps. Die Lebensmittel wurden vor dem Grab in den Schüsseln angerichtet. Räucherkerzen angezündet. Zum Gebet gingen wir häufig auf die Knie und verbeugten uns vor dem Grab. Dabei sprach mein Großvater Gebete. Nach jedem Zyklus verschütteten wir ein Glas Schnaps. Zwischendurch genehmigten wir uns auch mal einen.


Diese Rituale sind immer noch Teil der koreanischen Kultur. Ihre Wurzeln liegen in uralten schamanistischen Traditionen und im Buddhismus. Heute bin ich sehr dankbar, dass ich an diesem Ritual teilnehmen, meine Großmutter und meine Ahnen auf traditionelle Weise ehren durfte. Es war eine besondere Erfahrung.


Steaks

Dass ich gut esse war ihm auch 2007 noch sehr wichtig. Da er mich mit Schokolade nicht mehr beeindrucken konnte, packte er nun die großen Geschütze aus. Steaks. Fast täglich. Er briet die riesigen, tellergroßen Fleischbrocken aus bestem und teurem Rindfleisch in der Pfanne in seiner Küche im 13. Stock des Hochhauses. Dazu gab es „amerikanischen Salat“, wie er es nannte. In kleine Stücke geschnittener Eisbergsalat mit Ketchup und Mayonnaise. Etwas Reis und Kim-chi, das traditionelle Kohlgericht. Mann waren diese Steaks zäh. Aber geschmeckt haben sie trotzdem.


Der letzte Tag

Großvater brachte mich im Sommer 2007 in einem gelben Kia-Seniorenkleinwagen zum Busbahnhof in Yong-in. Zuerst zu meiner Tante nach Incheon, dann ins Flugzeug und ab nach Hause, das war der Plan. Am Busbahnhof saßen wir in einem Aufenthaltsraum und unterhielten uns. Ich schoss ein gemeinsames Foto in der dunklen Halle, draußen schien die Sonne. Ich verbeugte mich, er winkte zum Abschied, als ich im Bus saß und lief in seiner gebückten Haltung ein paar Schritte hinterher.


Er trug eine Mütze, wie meistens. Sein Gesichtsausdruck war traurig und voller Sorge. Ich wollte nur noch nach Hause. Ich fühlte mich fremd, war nur auf mich fokussiert, wie es für einen 27-Jährigen wahrscheinlich nicht ungewöhnlich ist. Es war das letzte Mal, dass ich meinen Großvater gesehen habe. Vielleicht ahnte er es.


Das letzte gemeinsame Foto, entstanden im Spätsommer 2007.
Das Geschenk

Er gab mir ein Geschenk mit. Ein Rollbild, das er hatte anfertigen lassen. Der Text stammte von ihm. Erst später verstand ich den kompletten Text, der altmodisch geschrieben war. Es war seine Lebensphilosophie, seine Interpretation von Tugend, die er auch seinen eigenen Kindern beigebracht hatte. Ein Leitfaden, um aufrecht durchs Leben zu gehen.


Über seine Motivation, mir dieses Geschenk zu machen, habe ich oft nachgedacht. Vielleicht hat es mir geholfen, meine Lebenseinstellung zu verändern, besonnener und erwachsener zu werden.


Das Bild im Flur meiner Wohnung in Ludwigshafen.

Im übertragenen Sinn und deutlich gekürzt steht hier: "Reg dich nicht auf, wenn Dich jemand ärgert oder tadelt. Nimm es gelassen hin, wenn jemand schlecht über dich redet. Rede nicht schlecht über andere, denn damit gibst Du deine eigenen Fehler preis. Ein aufrichtiges Leben braucht nicht viele Worte. Höre auf die Ehrlichkeit in Worten und lass dich nicht von schönen Worten blenden."

Das Bild hängt natürlich immer noch in meiner Wohnung. Ich werde es irgendwann an meine Kinder weitergeben und ihnen die Geschichte dazu erzählen.


Das Ende

15 Jahre ist das her, nun ist er gestorben. Selten hörten wir uns am Telefon für wenige Minuten. Auch das wurde schwieriger.


In den vergangenen Jahren ging es ihm immer schlechter, er wurde gebrechlich und verlor seine Selbstständigkeit. Irgendwann musste er in ein Pflegeheim. Seit Beginn der Corona-Pandemie beschränkte sich dann der Kontakt zur Familie auf das Winken durch ein Fenster, denn Südkorea schränkte Besuche in Pflegeeinrichtungen komplett ein.


Mitte März ging es dann zu Ende. Mehrere Krankenhäuser wiesen den Krankenwagen ab. Südkorea zählte zu dieser Zeit hunderttausende neue Corona-Fälle täglich. In seinem Pflegeheim in Yong-in wurde dann doch noch ein Einzelzimmer organisiert. Hier starb er nach drei Tagen. Sein Sohn konnte ihn besuchen, die anderen Familienmitglieder waren mit Corona infiziert.


Drei Tage lang steht dieser Schrein für den Verstorbenen. Hier können Angehörige Abschied nehmen.

Ich wünsche mir, dass er jetzt die Sonnenaufgänge von der Treppe im Fels aus gemeinsam mit meiner Großmutter sehen kann. Es muss sehr schön sein dort.


Mein Großvater hat immer für seine Familie gesorgt. Auch über den Tod hinaus. In dem Grab am Berg ist Platz für zehn Urnen.


Gute Reise, Haraboji.

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